2. Nur herumlaufen macht schon Spaß

Iwata:

Als Sie der Welt vor elf Jahren Super Mario 64 präsentierten, läutete dieses Spiel eine neue Ära ein und wurde von Menschen überall auf dem Globus gefeiert. Aber gleichzeitig entstand durch dieses Spiel eine Gruppe von Menschen, die 3D-Spielen gegenüber kritisch waren. Auf der anderen Seite vergrößerte das Spiel die Erwartungshaltung uns gegenüber, fantastische Mario-Spiele zu erschaffen, die die Welt überraschen könnten. Vor diesem Hintergrund stellt Super Mario Galaxy das nächste lang erwartete Mario-Jump’n’Run dar. Jetzt würde ich natürlich gerne von Ihnen wissen, was Ihnen während der Planung und Entwicklung durch den Kopf ging und wie Sie mit der hohen Erwartungshaltung zurechtkamen?

Iwata Asks
Miyamoto:

Der Grund, warum manche Menschen 3D-Jump’n’Run-Spiele meiden, liegt zunächst darin, dass diese Spiele bei ihnen Motion Sickness, eine Art 3D-Spielübelkeit, verursachen können. Zum anderen liegt es aber auch daran, dass man sich leicht auf dem Spielfeld verlaufen kann. Mit meinem Hintergrund in Industriedesign war ich es gewöhnt, mit CAD3 zu arbeiten. Und da es mein Job ist, in 3D zu zeichnen, kann ich es mir gar nicht nüchtern und objektiv vorstellen, wie jemand sich fühlt, der zum ersten Mal ein 3D-Spiel spielt. 3 CAD (Computer Aided Design): Eine Methode des Designs von Produkten und Bauwerken unter Zuhilfenahme eines Computers.

Iwata:

Sie sind daran gewöhnt, mit dreidimensionalen Räumen zu arbeiten.

Miyamoto:

Ich beschäftige mich ja auch schon eine Weile damit… Ich habe mich in der Vergangenheit bemüht, darauf zu achten, wie normale Menschen auf 3D reagieren, aber mir fällt es schwer, das selbst einzuschätzen. Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet habe ich die Arbeit an Mario 64 übrigens wirklich genossen. Als ich ein Kind war, habe ich mit Marionetten gespielt, in meiner Studienzeit habe ich Manga gezeichnet und als ich anfing zu arbeiten, habe ich Videospiele gemacht… Als ich anfing, Spiele zu machen, habe ich mich sehr darauf gefreut, sie selbst zu animieren. Am Anfang war natürlich alles in 2D, und als wir endlich in der Lage waren, in 3D zu arbeiten, war ich einfach nur glücklich, dass ich Mario jetzt von allen Seiten betrachten konnte.

Iwata Asks
Iwata:

Miyamoto-san, bevor Sie an Mario 64 gearbeitet haben, haben Sie den Super FX-Chip4 des SNES verwendet, um ein Spiel wie Starwing5 zu erschaffen. Die Arbeit an Mario 64 war deshalb sicher für Sie eine Befreiung von den vielen Beschränkungen, die Sie bis dahin gefesselt hielten. Es gab so viele Dinge, die Sie in 3D machen wollten, und es scheint fast, dass Sie all Ihre Energie zusammennahmen und auf Mario 64 bündelten. 4 Der Super FX-Chip wurde in einige SNES-Module eingebaut. Dieser Chip ermöglichte die Anzeige von 3D-Grafiken.5 Starwing ist ein 3D-Shooter für das SNES, erschienen im Jahr 1993.

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Miyamoto:

Das Gute an Mario 64 war, dass der Spieler zum ersten Mal die Möglichkeit hatte, Mario frei in einem dreidimensionalen Raum zu bewegen. Wenn ich es ganz extrem ausdrücken darf, hatte ich das Gefühl, diese Software hätte nicht unbedingt in einem Spiel verwendet werden müssen.

Iwata:

Sie hatten das Gefühl, dass es auch Spaß macht, mit Mario einfach nur auf Erkundung zu gehen.

Miyamoto:

Genau. Vor Mario 64 gab es kein Spiel, in dem man sich wirklich frei in einer dreidimensionalen Umgebung bewegen konnte. Es war fantastisch, Mario einfach zu bewegen und Sterne zu sammeln. Heutzutage ist es nicht mehr revolutionär, nur ein Spiel in 3D zu machen. Bei der Erschaffung von Super Mario Galaxy machte ich mir also Gedanken über die Charakteristika der Welt eines dreidimensionalen Mario. Und zwar nicht im Hinblick auf die Story.

Iwata:

Das stimmt.

Miyamoto:

Und so kam ich auf die Idee mit der Schwerkraft. Schwerkraft wird in alten Filmen sehr oft für Spezialeffekte verwendet, zum Beispiel wenn der Charakter auf dem Kopf stehend an der Decke entlangspaziert. Natürlich kann das im echten Leben niemand, und ich dachte, es wäre doch toll, diese Idee in einem Spiel zu verwenden und den Menschen so eine neue Erfahrung zu bieten. Es wäre sicher ein Spaß, in einer solchen Welt zu spielen. Als ich das den anderen Mitgliedern des Teams erzählte, machten sie sich Gedanken und fragten: „Können wir so etwas wirklich als ein Spiel bezeichnen?“ Also sagte ich ihnen, bevor ich ein Spiel mache, das keinen Spaß macht, mache ich etwas, das kein Spiel ist, an dem aber jeder Spaß haben kann! (lacht)

Iwata Asks
Iwata:

Wenn also etwas grundsätzlich Spaß macht, dann ergibt sich der Rest irgendwie von selbst. Wenn andererseits ein Spiel keinen Spaß macht, wird es nicht funktionieren, wenn man nicht später noch eine Menge Elemente hinzufügt.

Miyamoto:

In meiner Vorstellung ist Mario ein ähnlicher Charakter wie ein Vaudevillain6 der alten Schule, ein eleganter Mann, der vor den Augen der Zuschauer eine Menge wundersamer Dinge vollführt. Ich dachte, Mario ist nicht einfach nur irgendein normaler Mann, und deshalb wollte ich ihn noch außergewöhnlicher machen. Zu dieser Zeit entstand der Name „Super Mario Galaxy”, und mit diesem Titel im Kopf hatte ich das Gefühl, dass sphärische Felder, Schwerkraft und Galaxien perfekt passen würden. Aber das Team hat diesen Ideen widersprochen. 6 „Vaudevillain” ist ein Begriff, der früher komödiantische Entertainer bezeichnete, die in Varietévorstellungen, so genannten Vaudevilles, auftraten.

Iwata:

Haben sie etwa gesagt: „Was? Jetzt auch noch Weltall?!?” (lacht)

Miyamoto:

Sie haben auch gesagt: „Was? Mario ist doch ein Fantasy-Spiel! Und jetzt wird es auf einmal zu Science-Fiction?!?” (lacht)

Iwata Asks
Iwata:

Nachdem Mario Land, See und Himmel erkundet hatte, war das Weltall sicher der nächste logische Schritt. Das Team dachte allerdings wohl, dass das Weltall als Mario-Welt einfach nicht passend wäre, oder?

Miyamoto:

Deshalb denke ich auch, dass dieses Spiel uns eine Gelegenheit gab, noch einmal aus Spielerperspektive darüber nachzudenken, was ein gutes 3D-Jump’n’Run für den Spieler ausmacht.

Iwata:

Die Planung lief wohl nicht hundertprozentig reibungslos. Ich habe gehört, dass die Idee eines sphärischen Spielfelds wohl nicht gleich vom Team verstanden wurde.

Miyamoto:

Ich hatte das Gefühl, diese neue Mario-Welt würde einfach nicht interessant sein, wenn das Spielfeld so scrollen würde, wie es das bis jetzt immer getan hatte. Ich hatte das Gefühl, dieses Spiel ist jetzt in 3D und deshalb muss ich die Messlatte ein wenig höher hängen. Als ich in der Vergangenheit an Paper Mario7 arbeitete, hatte ich mit Spielfeldern in Form einer Rolle oder einer Kugel experimentiert. Damals funktionierten diese Dinge nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte, deshalb musste ich die Ideen erstmal auf Eis legen. Ich packte die Ideen in das Konzept mit Mario 128, um sie zu zeigen, und es funktionierte wirklich sehr gut. Das Spielfeld war sphärisch, und die Kamera folgte Mario überall, egal wo er hinging. Da der Spieler den Kamerawinkel nicht verändern musste, hatten wir das Gefühl, dies könnte das Problem mancher Spieler mit Spielübelkeit vielleicht ein wenig reduzieren. Sie müssen wissen, wenn die Kamera vom Entwickler festgelegt ist und sich nicht so bewegt, wie der Spieler es sich vorstellt... 7 Paper Mario war ein Action-RPG, das in Europa im Oktober 2001 für das Nintendo 64 erschien.

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Iwata:

Wenn die Kamera sich anders bewegt als erwartet, bekommt der Spieler eher Probleme mit Spielübelkeit.

Miyamoto:

Wir mussten einfach die richtige Idee finden. Vom Design-Standpunkt aus betrachtet kann man mit einem sphärischen Spielfeld einen neuen Stil entwickeln, und diese Art Spielfeld ist auch für die Kamera brillant. Deshalb hatte ich diese Idee nach den Experimenten mit Mario 128 für eine andere Gelegenheit auf Eis gelegt.

Iwata Asks
Iwata:

Ich erinnere mich sehr gut daran, wie Sie sagten, dass Sie das nächste Mario mit sphärischen Spielfeldern entwickeln wollten. Damals verstand ich nicht genau, welche Vorteile darin liegen würden. Ich wusste zwar direkt, dass es großartig aussehen würde. Aber mir war nicht klar, dass der wahre Wert dieser Idee viel tiefer ging als das Auge erkennen würde.

Miyamoto:

Weil ich der Erste sein wollte, der diese Idee in die Tat umsetzt, war ich froh, dass niemand sonst diese Dinge erkannte. (lacht) Aber ich wollte nicht, dass diese Idee an anderer Stelle zuerst verwendet würde, deshalb versuchte ich sie in „Doshin the Giant”8 einzubauen. Als ich das aber dem Team erklären wollte, war die Antwort: „Keine Chance! Es ist viel zu spät!”, und ich verpasste damals die Gelegenheit. (lacht) 8 „Doshin the Giant” war ein Spiel, das in Europa im September 2002 für den GameCube erschien.

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Iwata:

So war das also! (lacht)

Miyamoto:

Schon seit dieser Zeit wollte ich die Idee verwenden. Aber die Erstellung eines sphärischen Spielfeldes fordert ein hohes Maß an Fähigkeiten von den Programmierern, die es in die Realität umsetzen, und gleichzeitig bietet es auch Stoff für interessante Diskussionen aller beteiligten Personen. Ich hatte das Gefühl, dass wir das unbedingt machen mussten… Ich bin nun mal der Typ Mensch, der sich bei seiner Arbeit lieber neue Herausforderungen sucht, als immer und immer wieder die gleichen Dinge zu wiederholen. Manchmal sagte ich auch Dinge wie: „Mit dieser Idee kann man alles Mögliche machen!”, um das Team zu motivieren, oder: „Wenn ihr das sphärische Feld unendlich groß macht, könnt ihr flache Strecken machen, genau wie vorher – alles ist möglich!” (lacht) Deshalb hatten alle das Gefühl, dass wir an etwas Besonderem arbeiteten, als das Spiel langsam Form annahm.