2. Der Durchbruch: Das AR-Buch

Iwata:

Wie nahm die Entwicklung von „Spirit Camera: Das verfluchte Tagebuch“ ihren Anfang?

Kikuchi:

Der Anfang war eigentlich ganz simpel. Als Nintendo uns das Nintendo 3DS-System vorstellte, habe ich mich sofort verliebt. (lacht) Das brillenfreie 3D, die Kamera und der Bewegungssensor – es war meiner Meinung nach einfach die perfekte Hardware für die „Project Zero“-Serie

Iwata:

Der Nintendo 3DS rief Ihnen zu: „Mach ein Spiel für mich!“

Kikuchi:

So ungefähr! (lacht)

Izuno:

Wie Mr. Kikuchi fanden auch viele bei Nintendo, dass der Nintendo 3DS sich hervorragend für Horrorspiele eignete. Auch ich war mir sicher, dass für Horror niemand anderes in Frage kam als Tecmo Koei Games

Iwata:

Davon waren Sie überzeugt, weil Sie bei „Zero: Tsukihami no Kamen“ mit dem Unternehmen zusammengearbeitet hatten

Izuno:

Genau. Ich ging zum Leiter meiner Abteilung und erklärte, dass ich eine gute Horror-Idee hatte und er mir unbedingt erlauben müsste, diese umzusetzen

Kikuchi:

Mein Team hat dann sofort einen Projektvorschlag erstellt. Aber leider fiel der erste Vorschlag durch. Sie, Mr. Iwata, meinten, dass Horror besser für Heimkonsolen geeignet sei und dass unser Vorschlag nicht überzeugend darlegte, warum dieses Spiel für ein Handheld entwickelt werden sollte

Iwata:

Ja, stimmt

Kikuchi:

Dann sind wir also ans Reißbrett zurückgekehrt. Mr. Izuno und Mr. Makino nahmen an den Planungssitzungen teil, und wir sprachen die Sache wieder und wieder durch

Izuno:

Bei dem ersten Vorschlag handelte es sich mehr oder weniger um ein reguläres „Project Zero“-Projekt, das auf Nintendo 3DS portiert worden wäre. Aber da war noch etwas, wozu ich mich ausgehend von meiner Erfahrung als Producer von „Zero: Tsukihami no Kamen“ verpflichtet fühlte

Iwata:

Was genau war das

Izuno:

Das wird jetzt vielleicht falsch aufgefasst, aber ich fand, dass es nicht reichen würde, etwas zu erstellen, von dem man sagen könnte: „Das ist ein tolles Horrorspiel.“ Damit wäre die Anzahl derer, die das Spiel tatsächlich kaufen würden, zu begrenzt gewesen

Iwata:

Man muss immer erst einen Einstieg finden. Viele Leute mögen Horrorfilme, aber ich habe den Eindruck, dass sich nicht so wahnsinnig viele Leute mit Horror-Videospielen befassen. Dieses Problem wollten Sie irgendwie lösen, nicht wahr

Izuno:

Das Nintendo 3DS-System ist ein Handheld, also dachte ich, dass wir die Vorteile des einfachen Spiels und der Tragbarkeit auch nutzen sollten. Und ich fand, dass wir mit einem Spiel auf die Kunden zugehen sollten, das im Kern über AR verfügt und gruselig ist, aber es sollte auch eine neue Art der Unterhaltung bieten, die nur mit dem Nintendo 3DS-System möglich ist.

Iwata Asks
Kikuchi:

Um ehrlich zu sein, haben wir AR im ersten Vorschlag lediglich als Einzelelement betrachtet. Es war einfach nur eine Erweiterung der vorhergehenden „Project Zero“-Spiele. Dann hatten wir ausgehend von Mr. Izunos Vorschlag und diversen betriebsinternen Geistesblitzen die Idee, die Sache als Abenteuerspiel unter der Rubrik AR-Horror zu präsentieren

Iwata:

Rückblickend hatte dies einen großen Einfluss auf dieses Projekt

Kikuchi:

Allerdings. Das Spiel-Design verwandelte sich komplett. Es wurde zu etwas, das nur auf dem Nintendo 3DS erlebt werden konnte. Alle Puzzleteile fügten sich plötzlich zusammen und wir konnten etwas erschaffen, ohne die vorhandene „Project Zero“-Serie einfach nur zu verpflanzen

Iwata:

Ich habe den ersten Vorschlag abgelehnt, weil Horrorspiele meiner Meinung nach sehr opulente Grafiken und einen guten Klang aufweisen sollten. Man verdunkelt das Zimmer und konzentriert sich ganz auf das Erlebnis. Ich hatte das Gefühl, dass ein Spiel für das Nintendo 3DS-System, das auf diesem Heimkonsolen-Konzept beruhte, einfach nur eine verwässerte Version der Konsolenversion wäre, ganz egal, wie viele Funktionen man hineinpacken würde. Und wie auch Mr. Izuno schon sagte, war ich der Ansicht, dass eine andere Herangehensweise möglicherweise ein größeres Publikum ansprechen würde

Izuno:

Genau

Iwata:

Dann kam es bei den Entwicklern zu einem weiteren Motivationsschub. Sie wollten wohl unbedingt meine Bedenken ausräumen. Und so entwickelte sich das Spiel dann ganz prächtig! (lacht)

Iwata Asks
Kikuchi:

Stimmt, ich bin inzwischen richtig dankbar für Ihre ursprüngliche Ablehnung. Wenn man an so einem neuen Projekt beteiligt ist, gilt es diverse Hürden zu nehmen. Diesmal war klar, worin diese bestanden; und jedes Mal, wenn es uns gelang, eine dieser Hürden zu nehmen, kam es mir vor, als hätte das Spiel eine weitere Stufe erklommen

Izuno:

Und es gab eine Menge Hürden

Kikuchi:

Die erste bestand darin, AR in den Kern des Spiels zu integrieren. Die zweite kam, als wir den Prototyp erstellten und nicht wussten, wie wir mit den Markern umgehen sollten

Iwata:

Sie meinen die AR-Marker8. 8. AR-Marker: Ein visuelles Muster, auf das die Spieler die Kamera fokussieren; das Spiel liest diese dann, um AR-Inhalte anzeigen zu können

Kikuchi:

Für den Prototyp hatten wir erwogen, reale Objekte als Marker zu verwenden, aber da Telefone und Uhren u. Ä. sich in jedem Haushalt unterscheiden, fanden wir keine Lösung dafür, was genau das System erkennen sollte

Iwata:

Auch bei Standardobjekten, die in jedem Haushalt vorkommen, wäre es schwierig etwas zu finden, das exakt dieselbe Form hat

Kikuchi:

Wir haben viele Ideen durchgespielt, aber nichts hat wirklich funktioniert. Irgendwann waren wir total frustriert. Während einer Planungsbesprechung etwa um diese Zeit kam Mr. Izuno dann mit der Idee, dass wir ein Buch in den Spielumfang aufnehmen könnten

Iwata:

Wenn man dem Produkt ein reales AR-Buch beilegen würde, das all die Standardmarker enthält, würden alle Spieler quasi über dieselbe Umgebung verfügen

Kikuchi:

Genau. Die Idee, dem Spiel etwas beizulegen, war auch intern angesprochen worden, aber es wurde verworfen, weil das sehr kosten- und arbeitsintensiv gewesen wäre. Wir konnten das alleine nicht entscheiden. Aber dann kam der Vorschlag plötzlich von Nintendo

Izuno:

Ich hatte aber auch wirklich lange darüber gebrütet, bevor ich wagte, es vorzuschlagen. (lacht)

Alle:

(lachen)

Izuno:

Schon vor dem Problem mit den Markern hatten wir überlegt, dass dem Spiel noch irgendetwas fehlte. Irgendetwas, das die Aufmerksamkeit der Leute erregen und sie dazu bringen würde, das Spiel in die Hand zu nehmen. Ein Heft mit den Markern, die so für jedermann gut lesbar wären, würde das Spiel interessanter machen

Makino:

Ungefähr zu diesem Zeitpunkt entwarfen wir die Hauptgeschichte „Project Zero: Das violette Tagebuch“. Tecmo Koei Games war der Meinung, dass das Tagebuch eines unbekannten Besitzers recht unheimlich sein könnte. Damals sollte das Tagebuch noch auf dem unteren Bildschirm angezeigt werden. Als dann Mr. Izuno seinen Vorschlag machte, beschlossen wir, es mit einem realen Buch zu versuchen

Iwata:

Das „verfluchte Tagebuch“ ist ein Buch unbekannten Ursprungs. Gab es Schwierigkeiten dabei, das AR-Buch hinzuzufügen

Kikuchi:

Das Problem mit den Markern haben wir gelöst, aber dann mussten wir noch einen Weg finden, das Ganze ins Spiel einzubauen. Im Spiel ist es ja ganz schaurig, wenn man den Eindruck hat, dass einen gleich etwas anspringt und dann doch nichts passiert. Aber wenn man bei der AR alles richtig macht und dann trotzdem nichts passiert, steht man da und denkt sich: „Wie – und was ist jetzt?“ (lacht)

Iwata Asks
Iwata:

Das stimmt! (lacht) Wenn man darauf wartet und nichts passiert, funktioniert der Marker nicht

Kikuchi:

Eben. Ich will hier nichts verraten, deshalb kann ich nicht allzu viel sagen, aber um dieses Problem zu beheben, haben wir uns sehr in das Design vertieft und Wege gewählt, die den Erwartungen der Spieler – auf positive Weise – entgegenlaufen

Iwata:

Na, da haben wir ja etwas, worauf wir uns beim Spielen freuen können. (lacht)

Kikuchi:

Eine weitere Herausforderung bestand darin, wie wir die Spieler dazu bringen würden, im Verlauf der Handlung das AR-Buch zu betrachten. AR-Technologie dient ursprünglich dazu, eine Schnittstelle zu eliminieren. Ein zusätzliches Heft, das der Spieler durchblättern muss, wäre also irgendwie kontraproduktiv

Iwata:

Es hätte einfach nur mehr Arbeit bedeutet, letztlich aber nichts gebracht

Kikuchi:

So schien es. Also haben wir viel Energie darauf verwandt, einen unterhaltsamen Weg zu finden, die Spieler beim Nutzen der Marker dazu zu bringen, vor- und zurückzublättern

Iwata:

Mr. Makino, Sie haben an dem AR-Buch gearbeitet. War das schwierig

Makino:

Das Dilemma bestand darin, dass wir ein unheimliches AR-Buch haben wollten, welches aber auch die Marker-Funktion erfüllen sollte. Es war offensichtlich, dass die Designer bei Tecmo Koei Games das Buch so gruselig wie möglich gestalten wollten, daher habe ich sie immer wieder gebeten, es zu überarbeiten. Und schließlich hatten wir dann die aktuelle Version

Iwata:

Marker-Erkennung und Furcht sind nicht leicht unter einen Hut zu bringen

Makino:

Schwierig war es auch, Spielweisen zu finden, die das Buch mit einbanden. Wir spielten mit allen möglichen Ideen – z. B. Dinge, auf die man beim Blättern reagieren würde, oder Spielweisen, die nur mit einem Notizbuch möglich sind. Wir haben uns wirklich angestrengt, so viel Grauen und Überraschung hineinzupacken wie möglich

Iwata:

Und ist es Ihnen gelungen, das Ganze so zu gestalten, dass es Spaß macht und sich nicht wie eine Pflicht anfühlt

Makino:

Ja. Manche Ideen mussten wir leider ausrangieren, aber es hat sich auf jeden Fall gelohnt, mit den Designern von Tecmo Koei Games zusammenzuarbeiten. Gemeinsam ist uns da etwas sehr Interessantes gelungen.

Iwata Asks
Iwata:

Was meinen Sie, Mr. Izuno

Izuno:

Da wir das Buch beilegen wollten, sollten außer der Hauptgeschichte auch andere Ideen und Elemente enthalten sein, die man immer wieder spielen konnte, so dass erfahrene Spieler mehr und mehr Tiefgang im Spiel erleben können. Nachdem die Entwicklung dann endlich auf die Zielgerade kam, haben wir viel darüber gesprochen

Makino:

Sie sprechen vom Modus „Besessene Seiten“

Iwata:

Mr. Makino, war das nicht eine unzumutbare Anforderung? (lacht)

Makino:

Allerdings! (lacht) Als das auf den Tisch kam, dachten Mr. Kikuchi und ich wirklich.

Iwata:

Ich habe den Eindruck, dass es bei Tecmo Koei Games viele Mitarbeiter gibt, die wirklich alles geben, wenn sie gebeten werden, einem Spiel mehr Tiefgang zu verschaffen.

Kikuchi:

Das kann sein. (lacht) Zuerst haben wir uns in die Geschichte gestürzt, aber dann haben wir auch viele Elemente hinzugefügt, die das Spielvergnügen für die Spieler erhöhen.