3. Charakterspiele

Iwata:

Was ist ein essenzielles Element der „Tales“-Serie, auf das absolut nicht verzichtet werden kann?

Yoshizumi:

Die Serie umfasst Spiele mit einer Geschichte, in welcher die Spieler in die Haut eines Charakters schlüpfen. Wir geben nie vor, dass eine Figur z. B. ein Bösewicht ist. Letzten Endes kämpft das Team der Protagonisten gegen diejenigen, die die Welt in eine Krise stürzen wollen, aber ...

Iwata:

Es gibt also schon Gut und Böse.

Yoshizumi:

Ja, aber die Bösen haben nicht notwendigerweise eine rabenschwarze Seele. Sie haben eigene Gründe für ihre Handlungen. Auch sie glauben, dass sie etwas gegen den Zustand der Welt tun müssen. Aber die Protagonisten halten ihren Ansatz für falsch; sie haben gegensätzliche Ansichten. Wir versuchen, die Sache nicht zu einseitig zu machen.

Iwata:

Ein weiteres Merkmal ist, dass Sie versuchen, eine andere Welt zu zeigen als diejenige, in der es klare Unterscheidungen zwischen Gut und Böse gibt, in der am Ende das Böse besiegt wird und die Gerechtigkeit triumphiert.

Yoshizumi:

Alles andere wäre ja auch nicht realistisch. Es gibt auf der ganzen Welt Konflikte, und alle beteiligten Parteien glauben sich im Recht. Vielleicht gelten die Bösen ja nur deshalb als böse, weil die Person mit der lautesten Stimme sie dazu deklariert hat.

Iwata:

Die Geschichte wird von den Siegern geschrieben, und die siegreiche Seite erklärt die Unterlegenen eben zu den Bösen.

Yoshizumi:

Wir versuchen das Schema beizubehalten, in dem die gegnerische Seite immer eigene Beweggründe hat. Ich betrachte die von uns erstellten Spiele nicht als Rollenspiele. Man spielt ja keine Rolle, sondern einen Charakter. Anders ausgedrückt: Der Protagonist ist kein „Vertreter“ des Spielers, sondern ein Charakter mit eigener Persönlichkeit. Ich betrachte die Spiele daher als „Charakterspiele“.

Iwata:

Verwenden Sie diesen Ausdruck oft?

Yoshizumi:

Nicht oft, nein, aber so betrachte ich sie. Wir nennen Sie „Rollenspiele“ oder „RPGs“, damit die Spieler wissen, worum es geht, und bezeichnen das Genre als „xyz-RPG“, aber es sind eben keine Feld-, Wald- und Wiesen-RPGs.

Iwata Asks
Iwata:

Sie bezeichnen sie als RPGs, um Verwirrung zu vermeiden, aber es gibt schon subtile Unterschiede.

Yoshizumi:

Ich denke mir immer: „Vielleicht halten sie ja alle für RPGs, aber nein, bedaure, es sind eigentlich keine.“ (lacht) Wir versuchen, attraktive Charaktere und eine realistische Welt zu zeigen, sodass es nicht einfach nur wie ein Märchen wirkt. Wir achten sehr auf die Dialoge, gestalten unsere Charaktere modern und lassen ihre Denkweise aktuell wirken.

Iwata:

Was für eine Art von RPG ist „Tales of the Abyss“?

Yoshizumi:

Ein „RPG zum Entdecken des Sinns des Lebens“. Es geht darum, sich selbst zu finden. Das Spiel erschien ursprünglich 2005 und markierte somit das 10. Jubiläum der Serie. Damit war es ein Meilenstein, mit dem wir etwas ausprobierten, was uns vorher nicht gelungen war. Zum ersten Mal in der Serie fragten wir uns beim Entwickeln des Szenarios, ob wir einen wirklich selbstsüchtigen Protagonisten verwenden und das Spiel so aufbauen könnten, dass der Spieler es bis zum Ende spielen würde, selbst wenn der Protagonist ihm unsympathisch wäre.

Iwata:

Verstehe.

Yoshizumi:

Der Hauptcharakter, Luke, ist ein verwöhnter Balg aus gutem Hause. Er hat Geld und Status und bekam in seiner Kindheit immer alles, was er wollte. Er ist also völlig unfähig, auf eigenen Füßen zu stehen. Er bekommt prompt Probleme, da einer seiner Fehler verheerende Folgen hat; aber er erklärt einfach nur, es sei gar nicht seine Schuld. Der Rest des fünfköpfigen Teams hält ihn für nutzlos. Irgendwann fällt dann der Groschen und er beginnt, sich zu ändern.

Iwata:

Wenn Spieler diese Art Charakter spielen müssen, kann es schon passieren, dass sie ihn nicht leiden können.

Iwata Asks
Yoshizumi:

Ja. Ich dachte, dass die Spieler an diesem Punkt vielleicht ihre Controller von sich werfen würden. Aber man bekommt mit, wie er sich ändert, und man sieht, warum er ist, wie er ist. Also haben wir diesen Sprung gewagt. Und ich dachte, dass wir ja die Gefühle der Spieler ihm gegenüber später noch umkehren könnten.

Iwata:

Sie haben es herausgebracht und dann mit angehaltenem Atem gewartet, wie die Fans reagieren würden.

Yoshizumi:

Allerdings. Aber viele Spieler haben es tatsächlich komplett durchgespielt und es für großartig erklärt. Was ich eigentlich sagen wollte, ist, dass wir uns von der Formel des Helden mit vorherbestimmtem Schicksal, der aufwächst wie im Bilderbuch und schließlich die Wurzel allen Übels besiegt, verabschieden sollten.

Iwata:

Es sollte nicht immer alles wie am Schnürchen laufen.

Yoshizumi:

Genau. Vielleicht ist das ja nur mein ganz eigenes, seltsames Empfinden, aber wenn Spiele sonst nichts zu bieten haben, werden sich die Leute darüber lustig machen. Selbst Kinder freuen sich, wenn Filme und Bücher eine komplexere Weltsicht zu bieten haben, aber wenn Videospiele immer nur die Erwartungen erfüllen – was hat das Ganze dann für einen Sinn? Also lasse ich allen ihre Denkweise, indem ich z. B. einen eigenartigen Protagonisten erstelle oder ein Team, in dem niemand eine wirklich gute Person ist. (lacht)

Iwata:

Es macht sich bemerkbar, dass nicht alle von Anfang bis Ende nur Gutmenschen und Weltverbesserer sind.

Yoshizumi:

Stimmt. Stattdessen hat jede Figur von Anfang bis Ende eigene Hintergedanken. (lacht)

Iwata Asks
Iwata:

Aber trotzdem retten sie die Welt.

Yoshizumi:

Ja, das dann doch. (lacht) Sie sind nicht alle gute Menschen. Aber so ist es doch in der Realität auch. Die Welt von „Tales of the Abyss“ steckt voller Charaktere, die clever sind, aber den Dummen spielen, oder sich aufführen, als könnten Sie kein Wässerchen trüben, dabei aber Beziehungen zum Gegner haben.

Iwata:

Verstehe.

Yoshizumi:

Sie agieren alle im Einklang mit ihren eigenen Gedanken und Motiven, aber am Ende treffen sie eine Wahl und gehen gemeinsam mit Luke auf die Reise. Die Spieler erleben, wie Luke an seinen Aufgaben wächst, und bemerken, dass er eigentlich gar kein so übler Kerl ist. Und dieses Gefühl von Legende oder Märchen sollen die Spieler im Spiel verspüren.