4. ''Zurück zu den Wurzeln'' und ''Klassentreffen''

Iwata:

Worauf sind Ihre Werte noch begründet, abgesehen von Ihrer Erfahrung in Übersee?

Ono:

Nun, Capcom hatte einen Titel namens Onimusha19, der sich weltweit sehr gut verkaufte. Zu dieser Zeit hatte Gladiator20 gerade einen Oscar bekommen. Daher dachten wir, dass sich Produkte mit historischem Hintergrund auf jeden Fall verkaufen lassen würden. Und so machte ich ein Spiel mit dem Titel Shadow of Rome.21 Das Ergebnis... war niederschmetternd. Der Grund war, dass ich einfach nicht die Zeichen der Zeit erkannt hatte. 19Onimusha: Ein Survival-Action-Spiel über die Sengoku-Zeit (Streitende Reiche) in Japan. Das erste Spiel der Serie wurde 2001 von Capcom Co., Ltd. veröffentlicht.20Gladiator: Ein 2000 in den USA produzierter Film unter der Regie von Ridley Scott.21Shadow of Rome: Ein Action-Adventure-Spiel, das 2005 von Capcom Co. Ltd. veröffentlicht wurde.

Iwata:

Denken Sie, dass Sie befangen waren?

Ono:

Es war meinem falschen Glauben geschuldet, dass sich alles mit historischem Hintergrund schon verkaufen lassen würde. So kann man beispielsweise in einem 2-Stunden-Film sehr viel Action zeigen. Aber wenn ich danach fragte, ob die Amerikaner wirklich etwas über die Geschichte des Alten Roms wussten, hatte ich den Eindruck, dass, wenn es nicht gerade darum ging, dort Sightseeing zu machen, das Interesse und das Verständnis für die Details der Römischen Geschichte nicht gegeben waren. Und wenn ich mir dann die Situation in Italien vorstelle, habe ich den Eindruck, dass Caesar für die italienische Bevölkerung nicht so außergewöhnlich ist, wie wir es vielleicht als Japaner empfinden. Die Leute reagieren ungefähr so: „Caesar? Ja, natürlich wissen wir, wer er war.“ Mit anderen Worten haben wir als Japaner unser eigenes Verständnis solcher geschichtlicher Epochen, davon, welche Leute die schillerndsten Figuren waren. Die Eindrücke der lokalen Bevölkerung vor Ort kann sich jedoch häufig GÄNZLICH von unserer unterscheiden.

Iwata Asks
Iwata:

Es gibt niemanden, so wie Mr. Shiono22? 22Nanami Shiono: Ein japanischer Romanschriftsteller, der in Italien lebt und dessen herausragendste Arbeit Res Gestae Populi Romani ist.

Ono:

Das glaube ich nicht. Deshalb fragen die Leute dort selbst bei Shionos Romanen: „Oh, das ist wirklich passiert?“ Ich war voreingenommen und hatte meine Vorstellung, dass „ein historisches Spiel über das berühmte Römische Reich sich mit Sicherheit verkaufen ließ“ nicht bewusst durchdacht. Zu der Zeit habe ich wahrscheinlich auch Europa und Amerika zusammen in einen Topf geworfen und die Unterschiede nicht richtig verstanden. Diesen Vorfall habe ich zum Anlass für ein tiefergehendes Verständnis der Dinge genommen.

Iwata:

Nach dieser unangenehmen Erfahrung verdichteten sich Ihre Werte also mehr zu denen, die Sie heute haben.

Ono:

Ja. Ehrlich gesagt, glaube ich, dass es deshalb so unangenehm war, weil ich so sehr darauf vertraute. Ich dachte über meine Fehler nach und versuchte, diese besser zu verstehen. Das Ergebnis davon war Dead Rising.23 Ich analysierte Amerika mit dem Team von Shadow of Rome. Wir kamen dahinter, für welche Spiele man sich dort begeisterte. Nachdem wir alle Informationen dieser Art zusammengetragen hatten, gelang es uns, zu einem guten Ergebnis zu kommen. Aber das konnte ich erst nach dieser Erfahrung, dieser Niederlage und diesem großen Fehler begreifen. 23Dead Rising: Ein Action-Spiel, das im September 2006 von Capcom Co., Ltd. veröffentlicht wurde

Iwata:

Ich verstehe.

Ono:

Als wir uns dann dazu entschlossen, Street Fighter noch einmal aufzupolieren, wollte ich daher nicht den gleichen Fehler ein weiteres Mal machen. Ich blickte zurück und versuchte mich zu erinnern, wovon ich in den 90er Jahren beeindruckt gewesen war. Ich musste mich entsinnen, wie man sich damals fühlte. Und so erstellte ich eine Folge nach der anderen.

Iwata:

Seit der letzten Folge der Serie sind neun Jahre vergangen. Wie genau fing das Revival von Street Fighter an?

Iwata Asks
Ono:

Als ich zu einem anderen Titel in Übersee interviewt wurde, war die abschließende Frage, die mir fast von jedem gestellt wurde: „Wann kommt die nächste Folge von Street Fighter heraus?" Die Leute fragten mich oft danach. Der Grund, warum ich dachte, die Serie wäre mit Street Fighter III24 zu Ende gegangen, ging auf den gleichen Fehler zurück, den ich auch bei Shadow of Rome gemacht hatte. Ich hatte nur die gleichen Konsumenten, die unverbesserlichen Fans der Serie im Kopf. 24Street Fighter III: Erstmalig 1997 in den Spielhallen von Capcom Co., Ltd. veröffentlicht und anschließend auf Heimkonsolen portiert.

Iwata:

Aber das waren Ihre leidenschaftlichsten Fans.

Ono:

Richtig. Es handelte sich auch um die lautesten Leute, die sich Gehör verschafften. Ich konnte ihre Gefühle wirklich nachvollziehen, also dachte ich nur an ihre Stimmen. Aber mir war nicht klar, dass es da noch andere Leute gab, die sich bis vor vier bis fünf Jahren noch gar nicht für das Spiel interessiert hatten.

Iwata:

Hätte es nicht diesen großen Fehler gegeben, den Sie angesprochen haben, dann hätten Sie es wahrscheinlich immer noch nicht verstanden.

Ono:

Ja. Mir wurde klar, dass es da Leute gab, die darauf warteten. Ich entschloss mich dazu, das Franchise von Kopf bis Fuß aufzupolieren.

Iwata:

Alle Spiele-Serien folgen immer einer bestimmten Tradition oder Gewohnheit. Mit dem Fortführen der Serie wird diese Tradition immer weiter verfeinert. Gleichzeitig geht bei dem Prozess aber auch etwas verloren. Was denken Sie ist bei Street Fighter verloren gegangen?

Ono:

Ich glaube, dass dies die „engeren Pfade“ sind. Wir haben die Eingangstüren abgeschlossen, ohne es zu merken.

Iwata:

War das wirklich etwas Unbewusstes?

Ono:

Das würde ich sagen. Durch die Kennzeichnung des “Eingangs” wurde es ein Spiel, zu dem nur eine auserwählte Gruppe Zugang hatte.

Iwata:

Aber die Leute, die Zugang hatten, müssen sehr stolz darauf gewesen sein und den Platz dort genossen haben.

Ono:

Ja. Es ist die Art von Freude, die man empfindet, wenn man zu einer auserwählten Gruppe gehört. Uns als den Schöpfern des Spiels ist dieses Gefühl auch zu Kopf gestiegen. Zum Glück werden sogar noch 14 Jahre nach der Veröffentlichung Welt-Turniere zu Street Fighter III durchgeführt!

Iwata:

Das ist erstaunlich! Das müssen die Leute sein, die das Spiel voll und ganz beherrschen.

Ono:

Ja. Darum war uns bei der Erstellung von Street Fighter IV bewusst, dass wir nichts erschaffen wollten, was nur Master Habu25 spielen konnte. Es gibt bereits ein Ryuo-Turnier26, so dass wir nicht noch einmal das gleiche machen müssen. 25Master Habu: Der vollständige Name lautet Yoshiharu Habu; ein professioneller Shogi- (japanisches Schachspiel) Spieler.26Ryuo-Turnier: Ein Shogi- (japanisches Schachspiel) Turnier, das von Yomiuri Shimbun abgehalten wird, der den Gewinner des Ryuo-Turniers als besten professionellen Shogi-Spieler bestimmt.

Iwata:

Mit anderen Worten sollten wir als Entwickler die Zugangsmöglichkeiten erweitern, damit mehr Leute entdecken, wie viel Spaß es macht, zu den „Auserwählten” zu gehören. Sie haben gesagt, das Revival-Projekt zu Street Fighter hätte damit begonnen, dass Sie darüber nachdachten, wie man das erreichen könnte.

Ono:

Ja. Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, schlugen manche zu Beginn von Street Fighter IV vor, es noch ein bisschen mehr zu übertreiben.

Iwata:

Allein schon, wenn man online die Kommentare eingefleischter Fans liest, gerät man mehr und mehr in diese Richtung.

Ono:

Ja. Da wir nicht die lautesten Stimmen mit der Meinung aller gleichsetzen konnten, kehrten wir zu den Wurzeln zurück und versuchten das Spiel der Leute zu analysieren, die Street Fighter anfangs gespielt hatten. Bei der Erstellung von Spielen rate ich meinem Team immer, nie seine Wurzeln und sein Klassentreffen zu vergessen. Zu den Wurzeln zurückzukehren, bedeutet, ganz sorgfältig den Ursprung zu betrachten, an dem alles begann. Beim Klassentreffen denken wir darüber nach, wie wir frühere Spieler des Originals zum erneuten Spiel bewegen können. Wenn Männer sich auf ein Klassentreffen mit ihrer Abschlussklasse vorbereiten, denken sie dabei sofort an das Mädchen, das ihnen damals auf Anhieb gefiel. (lacht)

Iwata Asks
Iwata:

(lacht)

Ono:

Auf dem Weg zum Klassentreffen denken sie darüber nach, wie es ihr wohl ergangen ist. Aber sobald sie dort ankommen, merken sie, dass sich jeder verändert hat und der Mann erkennt das Mädchen nicht mehr wieder. Etwas in der Art. (lacht) Wenn ich es wäre, würde ich mir auf dem Weg zum Klassentreffen eine ganze Menge Dinge vorstellen.

Iwata:

Sie meinen Sie würden sich in allen Einzelheiten ausmalen, was aus diesem Mädchen geworden ist? (lacht)

Ono:

Ja. Und hier ist es genau das gleiche. Die Leute, die früher in den 90er Jahren Street Fighter gespielt haben, bis ihnen die Finger wehtaten, tragen auch eine Art Bild in ihrem Herzen. Wir können nicht das, was wir damals verwendeten, heute noch einmal auf die gleiche Art und Weise einsetzen, aber wir können eine Art Klassentreffen abhalten, damit es sich jeder Teilnehmer vorstellen kann. Wir wollten solch ein Spiel von Street Fighter IV erstellen.

Iwata:

Also, anstatt die Vergangenheit noch einmal aufleben zu lassen, wollten Sie eher das Gute und die erfreulichen Bilder herausarbeiten.

Ono:

Ja. Wir haben versucht, es so zu gestalten, dass die Leute sagen: „Es hat sich überhaupt nicht verändert.“ und dies positiv meinen. Wir haben versucht, die Eingangstür breit zu machen, sind an die Wurzeln zurückgegangen, um herauszufinden, warum so viele Leute in der Vergangenheit das Original spielen wollten. Ich glaube die Aufarbeitung dieser Teile hat das Revival belebt.

Iwata:

War es nicht schwer, den Rest der Firma davon zu überzeugen?

Ono:

Ja, das war es. Vor fünf Jahren habe ich mir die Hucke voll geheult. Ich habe zwei Jahre gebraucht, um die Fima davon zu überzeugen! Sie sagten mir immer wieder: „Das ist doch out.”

Iwata:

Und haben Sie dann die starke Aufnahme durch die Verbraucher gespürt, als diese zum ersten Mal das Spiel ausprobierten?

Ono:

Die spürte ich bereits, als wir das Spiel ankündigten. Ungefähr im Oktober 2007 brachten wir einen Teaser heraus, um das Revival anzukündigen, und riefen damit eine ziemlich starke Reaktion hervor. Nachdem ich das gesehen hatte, wusste ich, dass die Richtung, in die wir uns bewegten, gar nicht falsch sein konnte. Als wir zunächst die Arcade-Version auf einer Videospielmesse vorstellten, sagten alle in dem Moment, wo sie die Version spielen konnten: „Wir sind so froh, dass sich das Spiel gar nicht verändert hat!“

Iwata:

Ihr Eindruck war, dass sich das Spiel gar nicht verändert hatte. Aber eigentlich haben Sie doch ziemlich viel an den Spieldetails verändert.

Ono:

Gelegenheitsspieler dachten, das Spiel hat sich nicht verändert. Die Leute, die das Spiel gewissenhaft spielten, bemerkten aber Dinge wie: „Das Spiel ist so weit entwickelt worden, dass es jetzt sogar das kann!“ Mir wurde klar, dass ich die Eingangstür breiter gemacht hatte, indem ich das Spiel beide Eindrücke vermitteln ließ. Zu der Zeit sagte ich mir: „Dann lag ich letztendlich doch nicht falsch!“ Und hierdurch kam ich ein wenig über meine vorige unangenehme Erfahrung hinweg.

Iwata:

Anschließend wurde das Spiel auf Heimkonsolen portiert. War alles weitere von da an ein Spaziergang, weil das Spiel doch schon so beliebt war?

Ono:

Ja. In dem Moment, als wir die Arcade-Version herausgebracht hatten, sagten sogar Leute von unseren Niederlassungen in Übersee: „Lasst es uns ausprobieren.“ Da wusste ich, dass sich alles zum Wohlgefallen des Spiels entwickelte.

Iwata:

Die Anhängerschaft von Kampfspielen war von einem bestimmten Zeitpunkt an drastisch zurückgegangen. Daher überraschte es mich, wie gut sich dieses Spiel auf einem HD-System verkaufen ließ. Ich fragte mich immer wieder, wie Sie das geschafft haben. Und jetzt bin ich erleichtert, wo das Rätsel gelöst ist. (lacht)