1. Gerade noch den letzten Zug erwischt

Iwata:

Bei diesem 'Iwata fragt'-Interview leisten mir Mr. Tsunekazu Ishihara, Präsident und CEO von 'The Pokémon Company', und Mr. Shigeki Morimoto von 'Game Freak' Gesellschaft. Danke, dass Sie heute da sind.

Ishihara/Morimoto:

Wir danken Ihnen.

Iwata:

Normalerweise unterhalte ich mich in der 'Iwata fragt'-Reihe ja mit Mitarbeitern von Nintendo, aber heute haben wir zwei Gäste, die bei anderen Firmen arbeiten. Trotzdem sehe ich Mr. Ishihara als einen Mitstreiter, an dessen Seite ich schon seit Jahren arbeite. (lacht) Ich fühle mich persönlich auch sehr stark mit Pokémon verbunden, weil ich schon so lange zusammen mit Mr. Ishihara an gemeinsamen Produkten arbeite. Ich glaube, es versteht sich von selbst, dass wir heute über die neuesten Pokémon-Titel sprechen. Aber ich denke, wir sollten mal damit anfangen, die Geschichte von Pokémon zu betrachten und herausfinden, wie die Goldene Edition HeartGold und die Silberne Edition SoulSilver damit in Zusammenhang stehen.

Ishihara:

Okay.

Iwata:

Ich würde gerne mit Ihnen anfangen, Mr. Ishihara, wenn das in Ordnung ist. Sie sind Präsident und CEO von The Pokémon Company1, aber auch im Vorstand von Creatures Inc.2 ... 1The Pokémon Company wurde 2000 gegründet und betreibt - neben dem Managements der Pokémon-Marke - sechs Pokémon-Center in ganz Japan.2Creatures Inc. wurde 1995 gegründet. Neben der Entwicklung von Pokémon-Videospielen und Spielkarten entwickeln sie Spiele wie "No No No Puzzle Chailian" für Game Boy Advance und "Laufrhythmus DS - Bring Bewegung in dein Leben!" für Nintendo DS.

Ishihara:

Ja, mittlerweile ist das richtig, aber als das erste Pokémon-Projekt anfing, habe ich als Producer zusammen mit Game Freak3 an der Entwicklung von Pokémon Rot und Grün4 gearbeitet. 3Game Freak, Inc. wurde 1989 gegründet und entwickelt Videospiele, darunter auch Titel aus der Pokémon-Reihe.4Mit Rot und Grün sind "Pokémon Rot" und "Pokémon Grün" gemeint, die ersten Spiele in der Pokémon-Reihe. Sie erschienen in Japan am 27. Februar 1996 für Game Boy. Später wurden sie weltweit als "Rot" und "Blau" veröffentlicht.

Iwata:

Und Sie, Mr. Morimoto?

Morimoto:

Ich heiße Morimoto und arbeite für Game Freak. Bei den letzten Titeln war ich Director, und an Rot und Grün habe ich noch als Programmierer gearbeitet.

Iwata Asks
Iwata:

Also, die Planung für Pokémon begann...

Ishihara:

Das war 1990.

Iwata:

Rot und Grün erschienen sechs Jahre später, im Februar 1996, der Entwicklungszeitraum war also unglaublich lang.

Ishihara:

Ja, das kann man wohl sagen. (lacht trocken)

Iwata:

Während der ausgedehnten Entwicklungsperiode von Pokémon habe ich versucht, so gut es ging auf dem Laufenden zu bleiben. Als Rot und Grün dann veröffentlicht wurden, war der Start so ruhig und unauffällig, dass man die unglaubliche Popularitätsexplosion unmöglich hätte vorausahnen können.

Ishihara:

Das stimmt. Wir haben die Titel ursprünglich im Oktober des Vorjahres fertig gestellt und wollten sie eigentlich schnell veröffentlichen. Aber wir haben die Verkaufssaison zum Ende des Jahres verpasst und die Spiele dann schließlich Ende Februar des Folgejahres auf den Markt gebracht - und das ist so ziemlich die schlechteste Zeit im Jahr, um Spiele zu veröffentlichen! (lacht)

Iwata Asks
Iwata:

Außerdem lagen zu der Zeit schon Bedenken in der Luft, dass der Game Boy5 vielleicht das Ende seiner erfolgreichen Laufzeit erreicht haben könnte, nicht wahr? 5Der Game Boy ist eine tragbare Konsole mit einem monochromen Bildschirm, der in Japan im April 1989 erschien. Zu den anderen Konsolen in der 'Game Boy'-Reihe gehören auch der Game Boy Pocket, der 1996 erschien, der Game Boy Light (war nur in Japan erhältlich), Game Boy Color aus dem Jahr 1998, und der Game Boy Advance von 2001.

Ishihara:

Deshalb hatte ich das Gefühl, dass wir vielleicht den letzten Zug verpassen könnten. (lacht) Wir hatten ja immerhin bis zum letzten Ende des Zyklus dieser Konsole gewartet.

Iwata:

Aber Sie haben den letzten Zug dann ja doch noch erwischt! (lacht)

Ishihara:

Ja, irgendwie hat es noch geklappt! (lacht) Am Anfang war das Projekt als Software für eine neue Plattform geplant. Mr. Satoshi Tajiri6 hat Game Freak 1989 gegründet... 6Satoshi Tajiri ist der Erfinder der Pokémon-Reihe und der Präsident von Game Freak.

Iwata:

In dem Jahr ist auch der Game Boy auf den Markt gekommen.

Ishihara:

Deshalb war es ursprünglich als ein Spiel für diese neue Hardware geplant. Dann gab es erhebliche Verzögerungen bei der Entwicklung des Titels... Aber wenn ich mir die Inhalte von Rot und Grün angesehen habe, hatte ich als Producer persönlich trotzdem das Gefühl, dass das Spiel - im Vergleich mit den anderen Spielen, an denen ich gearbeitet habe, oder die ich selber gespielt hatte - auf jeden Fall mit zum Besten gehörte. Ich war mir also ziemlich sicher, dass wir im Hinblick auf den Spielspaß den meisten Spielen um Längen voraus waren. Aber weil der Erscheinungstermin so knapp war, hatte ich am Anfang trotzdem erst meine Bedenken bei diesem Titel.

Iwata:

Ich war an der Gründung von Creatures Inc. beteiligt und ich erinnere mich daran, dass ich neben Ihnen gesessen habe, Mr. Ishihara, als Sie gerade entschieden, wie viele Einheiten zuerst ausgeliefert werden sollen.

Ishihara:

Ach ja, das stimmt! (lacht)

Iwata:

Ich erinnere mich daran, dass weniger Einheiten ausgeliefert werden sollten, als ich erwartet hatte... Trotzdem hatte ich ziemlich hohe Erwartungen. Bei dieser Anzahl von Einheiten rechnete ich damit, dass sie nur so aus den Regalen gerissen werden und schnell vergriffen sein würden. Aber leider war das nicht der Fall...

Ishihara:

Ich habe damals die wöchentlichen Verkaufszahlen gesehen und hatte den Eindruck, dass wir knapp an den Top Ten dran waren.

Iwata:

Zu diesem Zeitpunkt hätte also niemand vorausahnen können, dass Pokémon irgendwann weltweit so beliebt werden würde.

Ishihara:

Es war wirklich ein ziemlich ruhiger Start.

Iwata:

Aber nach den trägen Anfängen hat sich das Blatt ziemlich deutlich gewendet. Wie erklären Sie sich das?

Iwata Asks
Ishihara:

Ich denke, einer der Gründe ist die Macht der Mundpropaganda. Die Leute haben 1996 noch keine eigenen Internet-Blogs geschrieben, aber es hat sich trotzdem schnell herumgesprochen, dass Pokémon viel Spaß macht. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass die Medien - vor allem CoroCoro Comic7 - ihren Teil dazu beitrugen, dass Pokémon immer beliebter wurde. Und dann war da noch Mew, das Pokémon, das Mr. Morimoto als eine Art Scherz ausgeheckt hatte... 7CoroCoro Comic ist ein monatliches Manga-Magazin für Grundschüler, das 1977 zum ersten Mal von Shogakukan veröffentlicht wurde. Neben den Manga-Comics enthält es auch Artikel über Hobbys und Videospiele.

Morimoto:

Also...ich weiß nicht, ob "ausgeheckt" unbedingt das richtige Wort ist... (lacht trocken)

Ishihara:

Es gibt keinen Zweifel, dass Mew eine wichtige Rolle gespielt hat...

Iwata Asks
Morimoto:

Wir haben Mew erst ganz am Ende integriert. Das Modul war schon sehr voll und es war kaum noch Platz darauf frei. Dann wurden die Debug-Features gelöscht, die nicht in der endgültigen Spielversion enthalten sein sollten, wodurch gerade mal 300 Bytes Speicherplatz frei geworden sind. Und da dachten wir, dass wir Mew noch im Spiel unterbringen könnten. So was wäre heutzutage undenkbar!

Ishihara:

Das war ja, nachdem man Ihnen gesagt hatte, dass Sie nach dem Debugging auf keinen Fall auch nur ein Bit mehr verändern sollten! (lacht trocken)

Iwata:

Es bringt doch gar nichts, sich erst die Mühe mit dem Debugging zu machen und danach dann doch noch etwas zu verändern...? Da steckt doch bestimmt Mr. Morimotos schlitzohrige Art dahinter.

Morimoto:

Tja, bei diesem Scherz wusste jeder Bescheid, bis hoch zu Mr. Tajiri. Aber obwohl Mew dann im Spiel war...

Iwata:

...sollte es eigentlich gar nicht im Spiel auftauchen, oder?

Morimoto:

Genau. Mews Existenz sollte eigentlich nur bekannt werden, wenn uns noch eine gute Gelegenheit dazu untergekommen wäre. Es war im Spiel, damit es bereit wäre, wenn das im Rahmen einer Aktion nach der Veröffentlichung sinnvoll gewesen wäre. Aber wenn wir es intern nicht mal einsetzen wollten, war es für mich auch in Ordnung, es einfach dabei zu belassen.

Iwata:

Mew wäre also beinahe gar nicht im Spiel aufgetaucht.

Morimoto:

Stimmt. Aber durch einen unvorhergesehenen Bug tauchte Mew dann bei manchen Spielern auf. Es sah so aus, als hätten wir es von Anfang an so geplant, aber das war nicht der Fall. Obwohl es vielen der Beteiligten jede Menge Scherereien bereitet hat, hatte es am Ende einen positiven Effekt.

Iwata Asks
Iwata:

Man kann eben nie wissen, wie sich Dinge entwickeln, nicht wahr?

Morimoto:

Stimmt, man kann nie wissen.

Iwata:

So kam es also zur 'Legendären Pokémon-Aktion8'. 8Die 'Legendäre Pokémon-Aktion' wurde in der April-Ausgabe 1996 von CoroCoro Comic angekündigt. Dabei sollten zwanzig Gewinner ausgewählt werden, die ihre Spielmodule einschicken sollten und dann die Mew-Daten erhalten würden. Es haben sich ungefähr 78.000 Leute dafür beworben.

Morimoto:

Genau.

Iwata:

Die Ankündigung der Mew-Aktion bei CoroCoro Comics hat unglaubliche Wellen geschlagen. Ich denke, das war wahrscheinlich der Wendepunkt für Pokémon.

Ishihara:

Das glaube ich auch. Ab diesem Zeitpunkt verkauften wir in der Woche so viel wie vorher im ganzen Monat, dann dreimal und dann sogar viermal so viel.

Iwata:

Ich erinnere mich, dass ich vorher noch nie erlebt hatte, dass sich ein Spiel so gut verkauft.

Ishihara:

Als es dann auf Platz eins der wöchentlichen Verkaufszahlen war, waren seit der Erstveröffentlichung des Spiels anderthalb Jahre vergangen.

Iwata:

Das ist wie bei den traditionellen Enka-Balladen, die erst ungefähr anderthalb Jahre nach der Veröffentlichung wirklich populär werden. (lacht) (Redaktioneller Hinweis: Enkas sind japanische, melodramatische Pop-Songs, in denen es um die Gefühle und Erfahrungen der Japaner geht, und die charakteristisch mit Tremolo gesungen werden.)

Ishihara:

Genau so war es! (lacht)